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Sich der Langsamkeit verpflichten

Mit unermüdlicher Ausdauer begleitete und dokumentierte Sophie Huguenot mehrere Jahre den Nachrichtendienst des Westschweizer Fernsehens (RTS) zu einem Zeitpunkt, in dem sich das Fernsehen im Übergang vom analogen zum digitalen Medium befand.

Wie kommt die Tagesaktualität ins Bild? Welche Umgebung wird hierfür geschaffen, welche Bildeinstellungen werden festgehalten? Wie werden Bilder kreiert, inszeniert? Wie situieren sich die Akteur:innen darin? Und schliesslich: wie lässt sich der fortwährenden, oft hektischen Produktion von Information und Nachrichten in einem institutionellen Alltag begegnen? Es sind diese Fragen, denen sich die Fotografin in ihrer künstlerischen Langzeitrecherche widmete.

Mit ihr blicken wir in, hinter und neben die Kulissen und tun dies vor allem in den Räumlichkeiten des Fernsehturms der RTS – einem Genfer Wahrzeichen. Wir sind im Aktualitätenstudio und in den Redaktionsräumen, in der Werkstatt für Kulissen und Requisiten oder im Kostümlager. Oder aber wir sind am Drehort des aktuellen Tagesgeschehens, in der Taubenlochschlucht, in einem Tipi-Zeltdorf, im Bundeshaus in Bern, bei einem Wildhüter oder beim Montreux Jazz Festival – und die Zeit verlangsamt sich. Denn Sophie Huguenot setzt eine analoge Fachkamera ein und damit eine Aufzeichnungstechnik, die sich der Langsamkeit verpflichtet. Es sind die vorbereitenden Momente rund um das schliesslich ausgestrahlte bewegte Bild, die sie interessieren, die Einrichtung des sogenannten Plateaus im Studio, die Inszenierung des Settings unter freiem Himmel, die notwendigen technischen Installationen, die Moderator:innen in der Maske vor dem bevorstehenden Fernsehauftritt. Allen Szenen gemein: Wir warten.

Wir sind mittendrin, aber nie im Weg, ganz nah am Geschehen und bei den Personen, aber nie mit einem aufdringlichen Blick. Mit einer Beiläufigkeit und doch einer präzisen Entschiedenheit lenkt Sophie Huguenot den Blick an die Ränder des jeweiligen Geschehens und dessen Inszenierung und lässt uns so ganz unmittelbar am grossen hektischen Triebwerk der Nachrichtenkreation teilhaben.

Bilder lesen

In der Welt der Fotografie ist das Buch ein prädestiniertes Werk, Bilder aufzunehmen und in einer bestimmten Abfolge zu präsentieren. Um die mehr als 400 Bilder zu zeigen, entscheidet sich Sophie Huguenot, die Chronologie des Geschehens beizubehalten, und deckt so die Ereignisse zwischen August 2011 (Reportage über die Stadt Aarberg) bis Dezember 2019 (Bundesratswahl im Bundeshaus Bern) ab. Der Bildessay fliesst praktisch ohne Unterbruch, Bildlegenden oder Verortungen gibt es nicht. Die Kapitel bestehen aus den eigentlichen Reportagen und Schauplätzen, wiewohl die Übergänge von einer Szenerie zur anderen kaum merkbar, eher unauffällig und praktisch nahtlos verlaufen. Dass wir bei den einzelnen Einstellungen verweilen, ist nicht nur dem ruhigen und beobachtenden Blick auf das Geschehen zu verdanken, sondern auch der Aneinanderreihung von ähnlichen Bildeinstellungen zu fast filmartigen Sequenzen.

Dabei stehen nicht die ikonischen Bilder im Vordergrund oder die geglückten Schnappschüsse, die unsere Aufmerksamkeit erregen sollen, sondern die unscheinbaren, banalen, aber nicht weniger erzählerischen Momente, die den Arbeitsalltag beim Fernsehen prägen. Auch das Buchformat zeigt seine Wirkung. Abgestimmt auf die Originalgrösse der 4 × 5-Inches-Negative entsteht ein kleinformatiges und kompaktes Lesebuch, das sich unprätentiös, aber bestimmt des grossen Bildkorpus annimmt. Bei der eigentlichen Bildlektüre kann man sowohl im Einzelbild als auch in filmischen Anekdoten verweilen.

Die schwarze Bildrahmung – die nur bei randabfallender Bildplatzierung wegfällt – verweist auf die Kontaktabzüge der Farbnegative. Es ist keine aufdringliche Geste, die das analoge Bild der Fachkamera in seiner haptischen Genese feiert, aber doch eine staunende Verdeutlichung jeder einzelnen im langsamen Prozess entstandenen, gestochen scharfen Aufnahme.

Der Magie des Bildermachens wird als Auftakt im Buch ein besonderer Platz zugewiesen. Sophie Huguenot beschreibt den Ursprung dieser Bilder folgendermassen: «Es ist vorgekommen, dass ich denselben Film zweimal belichtet habe. Ergebnis: zwei unterschiedliche Themen überlagern sich auf einem Negativ. Was soll ich mit diesen Bildern machen? Sie sind Bestandteil meiner Arbeit. Der Zufall bringt unerwartete Ergebnisse hervor, die allein durch die analoge Technik ermöglicht werden. Ich behalte sie.»

Die Künstlerin war nie nur am Bild interessiert, sondern auch an der Beziehung zwischen Text und Bild und wieweit sich Ideen durch und zwischen den beiden Ausdrucksformen bewegen. Ihre Fotografien haben sehr wohl eine Legende, die das Geschehen benennt und verortet. Diese stehen nicht in unmittelbarer Nähe zu den Bildern, sondern sind als eigenständiger Text zu lesen. Sophie Huguenot versteht die Bildlegende nicht als dienstleistende, trockene Information, sondern erweitert sie mit Tagebuchaufzeichnungen und Reflexionen und schafft damit ein veritables Arbeits- oder Bordjournal. Darin immer wieder zu lesen: Warten, Langsamkeit, Geduld, Langeweile, bis der richtige Moment, um den Auslöser zu drücken, kommt.

Mit dem Text von Bernard Rappaz, ehemaliger Chefredaktor der Nachrichtensendungen beim Westschweizer Fernsehen und langer Unterstützer von Sophie Huguenots Projekt, erhalten wir eine profunde Innensicht auf den digitalen Wandel des öffentlich-rechtlichen Medienunternehmens. Jan Wenzel, Verleger von Spector Books, geht der Frage nach, welche Anforderungen und Möglichkeiten die Fotografie beim Porträtieren einer Institution innehat und wie deren scheinbar undurchdringliche Wirklichkeit greifbar gemacht werden kann, um uns damit einen neuen künstlerischen Zugang zur Welt zu schaffen.

Im Buch denken

Sophie Huguenot hat mit der langsamen und präzisen Produktion von Bildern und der Erzeugung von Bildgeschichten in gedruckter Form schon viel Erfahrung. Während eines Studienaufenthalts in Finnland hielt sie auf Spaziergängen mit der Polaroidkamera ihre Umgebung mit feinem Gespür für Bildkomposition, Eindrücke und Stimmungen fest. Jedes der acht Bilder, die sie für die vier kleinformatigen Leporellos Promenade Nr. 1–4 (2007–08) auswählt, steht für sich und verbindet sich doch zu einer eigenwilligen unaufgeregten Bildgeschichte. Die Polaroidbilder sind in Originalgrösse als auch recto verso reproduziert, um die Referenz ans Sofortbild eindeutig offenzulegen und damit die Bildlegenden, die von Hand auf die Rückseite geschrieben wurden, zu lesen sind. In ihrem grossformatigen, ebenfalls in Kleinstauflage und selbstverlegten Bildband Karkkila, genannt nach der südfinnischen Stadt, wendete sich ihr Blick nicht nur auf die Umgebung, sondern erfasste die Menschen, denen sie begegnete, in starken Porträtaufnahmen. Für ihre Diplomarbeit «58 jours» (58 Tage) setzte sie zum ersten Mal die Fachkamera ein und entschied sich gegen die Schnelligkeit und Überproduktion von digitalen Bildern. In Absprache mit 24 heures, einer lokalen Tageszeitung, befasste sie sich im Hochsommer 58 Tage lang mit den Geschehnissen, die in der Tageszeitung behandelt wurden. Mit ruhigem Blick fing sie beiläufige Alltagssituationen ein, die sie anschliessend kommentarlos in eine grossformatige Zeitschrift umsetzte. Für Block 2008 war Sophie Huguenot eine von zwölf jungen Fotograf:innen, die eine Bildsequenz für einen 366-tägigen Abreisskalender schufen. Für den Auftrag, mit Bildern einen vielschichtigen Blick auf die Welt zu zeigen, Geschichten zu erzählen und konzentrierte Momente aus dem Alltag einzufangen, suchte die Künstlerin zum ersten Mal den Kontakt zum Westschweizer Fernsehen und setzte sich mit dem Thema der Tagesaktualität auseinander, indem sie auch hier mit der Grossbildkamera arbeitete. In diesen Bildern ist ihr tiefes Interesse an der Inszenierung alltäglicher Mechanismen angelegt und ihr Bestreben spürbar, das Menschliche, sei es an- oder abwesend, ins Zentrum zu stellen. Aber erst vier Jahre später fasst sie den Entschluss, die beginnende Transformation von der analogen hin zur digitalen Fernsehproduktion zu begleiten und zu dokumentieren. Einen ersten Teil setzt sie in die kleinformatige Publikation 4 × 5 (2012) um, eine Arbeit, die 2012 mit einem Swiss Art Award ausgezeichnet wird, und beweist bereits hier ein sicheres Gespür für Choreografie der Bildabfolge und die Entwicklung einer rein visuellen Erzählung. Daraus wird ein neunjähriges Langzeitprojekt, das mit der vorliegenden Publikation TELEVISION endet.

Als ich zum ersten Mal von Sophie Huguenots Projekt erfuhr, war es der 30. Januar 2019. Es dauerte fast ein Jahr bis ich ihr am 2. Dezember 2019 antwortete und wir uns schliesslich am 21. Januar 2020 in Zürich trafen. Von da an trafen wir uns regelmässig und ich konnte die Genese des Buches mitverfolgen, bei der der Buchgestalter Nicolas Eigenheer von Anfang an wichtigster Partner in Crime war. Auch ein Buch braucht seine Inkubationszeit, bis die ersten konzeptionellen und gestalterischen Ideen stehen, bis die richtigen Projektpartner:innen gefunden sind, um schliesslich Bildauswahl und Sequenzierung zu definieren, um Layout, Schrift und Materialisierung zu bestimmen, Bildbearbeitung und Druck in Auftrag zu geben und in unserem Fall mit Spector Books die passende Verlagsheimat zu finden.

Sämtliche Parameter eines Buchs können sich mannigfaltig artikulieren und Gegenstand zahlreicher Diskussionen sein. Sophie Huguenot hat sich nicht nur mit Ausdauer und Beharrlichkeit des Themas angenommen, sondern sich mit ebenso viel Leidenschaft in die erforschende Zusammenarbeit mit allen am Buch Beteiligten investiert.

Sophie Huguenots Langzeitprojekt ist weit mehr als eine Dokumentation, nämlich ein visueller Essay, der die Inszenierung von Nachrichten eigenwillig zeigt und uns über die gesellschaftliche Bedeutung von Informationen, wie diese entstehen und das Bild von uns selbst und der Wirklichkeit beeinflussen, nachdenken lässt. Es ist die Langsamkeit und Ruhe, die die Künstlerin liebt und die sie mit ihrer Fachkamera und uns Rezipient:innen in die Welt des schnelllebigen Fernsehalltags eintauchen lässt und zum Nachdenken über die Produktion und Vermittlung von Bildern, aber auch über die Art und Weise, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen, einlädt.

Mirjam Fischer