Kann man eine Institution porträtieren, so wie man einen Menschen porträtiert? Kann man ein Genre neu erfinden, es konstituieren und so eine Möglichkeit eröffnen, die einen neuen künstlerischen Zugang zur Welt schafft? Sergei Tretjakow, einer der einflussreichsten Autoren der sowjetischen Avantgarde, tat das, als er 1929 in seinem Essay »Die Biographie des Dings«[1] eine neue Form des Romans vorschlug – eine Literatur, die nicht individuelle Helden, sondern Dinge ins Zentrum der Erzählung rückt. Die moderne Welt, so Tretjakows Einwand, lässt sich nicht vom einzelnen Menschen aus begreifen; die ökonomischen Prozesse, die sozialen Wechselbeziehungen, die gesamte Sphäre der Produktion sind von Einzelnen aus nicht vermittelbar. Würde man den Dingen folgen, von den Rohstoffen bis hin zu den Waren auf ihrem Weg in die Welt, würden auch die menschlichen Beziehungen und all die Berührungspunkte und Konflikte zwischen den Menschen deutlicher hervortreten.
Sophie Huguenot porträtiert in ihrem Buch TELEVISION. Ein fotografischer Essay über die Inszenierung von Nachrichten den Westschweizer Nachrichtendienst von Radio Télévision Suisse (RTS). Ihre Fotografien zeigen eine Institution, die selbst permanent Bilder – genauer: Nachrichten in Bewegtbildern – produziert. Sophie Huguenot hielt in ihren Fotografien über einen Zeitraum von neun Jahren den Wandel dieser Institution fest, den Übergang vom analogen zum digitalen Medium, der die Produktions- und Distributionsbedingungen der täglichen »News« tiefgreifend verändert hat. Ihre Aufnahmen zeigen das Ineinandergreifen zweier Öffentlichkeiten: Im Zentrum ihrer Bilder steht die überschaubare Produktionsöffentlichkeit einer Gruppe von Menschen, die gemeinsam »Fernsehen machen«, ihr Arbeitsalltag, ihre unterschiedlichen Aufgaben, ihr Zusammenwirken vor und hinter der Kamera. Am Rande aber thematisieren ihre Fotografien auch jene mediale Öffentlichkeit, die das Fernsehen darstellt, die Distributionsmacht dieser medialen Infrastruktur, die ein und dasselbe Bild auf Hunderttausende Bildschirme verteilt.
Kann die komplexe soziale Realität von Institutionen überhaupt in Fotografien eingefangen werden? Bertolt Brecht hegte in einem Aufsatz von 1930 berechtigte Zweifel daran: »Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache ›Wiedergabe der Realität‹ etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Krupp-Werke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich ›etwas aufzubauen‹, etwas ›Künstliches‹, etwas ›Gestelltes‹.«[2]
Diese oft zitierten Zeilen wurden meist als Beleg für ein grundsätzliches Misstrauen Brechts gegenüber der »einfachen ›Wiedergabe der Realität‹« durch die Fotografie verstanden. Man kann sie aber auch als einen ästhetischen Auftrag lesen: für eine Form der Fotografie, die nicht fertig ist, wenn die Bilder gemacht sind, sondern die ihrerseits ein Medium, eine »Bühne« sucht, um »etwas aufzubauen«. Nicht das einzelne Bild, wohl aber eine Abfolge, eine Sequenz, die mediale Montage von unterschiedlichen Wirklichkeitsausschnitten – »etwas ›Künstliches‹, etwas ›Gestellte‹« also – kann jene komplexen sozialen Konstruktionen vor Augen führen, die das Wesen von Institutionen ausmachen.
Das Fotobuch ist ein geeignetes Medium dafür. Man wird die ästhetische Position, die Sophie Huguenot mit ihrer Arbeit einnimmt, klarer verstehen, wenn man Television in einen Zusammenhang mit anderen Fotobüchern stellt und es als Beispiel eines neuartigen Genres liest: Fotobücher als Porträts von Institutionen. An zwei Beispielen sollen die Umrisse dieses im Entstehen begriffenen Genres deutlicher hervortreten: Timm Rauterts Im Krankenhaus. Der Patient zwischen Technik und Zuwendung. Bilder aus dem Alfried Krupp Krankenhaus (1991) und Gilles Raynaldys Jean-Jaurès (2015), das den Alltag einer Pariser Schule zeigt.
»Das Krankenhaus als riesiger Organismus mit seinen tausend Menschen und der fast unüberschaubaren Anzahl von Maschinen und Apparaten – diese Perspektive bleibt den meisten verschlossen. Dem Kranken begegnet immer nur ein Ausschnitt der Realität im Krankenhaus. Er erlebt nur, was unmittelbar um ihn herum und mit ihm geschieht: die Untersuchungen in den einzelnen Spezialabteilungen, die Gespräche mit Ärzten und Schwestern, die Pflege und Therapie. In dieser Begrenzung erlebt er das Spannungsfeld zwischen Technik und Zuwendung.«[3]
Da die Institution Krankenhaus etwas Zusammengesetztes ist, muss auch der Kamerablick, der auf sie gerichtet ist, aus vielen unterschiedlichen Perspektiven zusammengefügt sein. Diese Haltung charakterisiert Timm Rauterts Gebrauch von Bildern in Im Krankenhaus. Der Patient zwischen Technik und Zuwendung. Bilder aus dem Alfried Krupp Krankenhaus. Der Band war das letzte Buchprojekt von Otl Aicher, der während der Arbeit an dem Buch 1991 verunglückte. Der Grafikdesigner, der mit seiner Frau Inge Aicher-Scholl, dem Architekten und Künstler Max Bill und anderen 1953 die HfG Ulm gegründet hatte, hat wie niemand anders den Geist dieser Design-Hochschule in der visuellen Alltagsgeschichte der alten Bundesrepublik verankert. 1987 hatten Aicher und Rautert bereits bei dem Band Das Berliner Philharmonische Orchester[4] zusammengearbeitet, der in vielen Formentscheidungen als Prototyp für Im Krankenhaus angesehen werden kann. In beiden Büchern manifestiert sich eine neue Idee des lebendigen Zusammenspiels von Text, Fotografie und Gestaltung. Sie als Fotobücher zu bezeichnen, greift möglicherweise zu kurz, denn Timm Rauterts Fotografien stehen auf den Doppelseiten in einem engen Zusammenhang mit Texten. Die Abbildungen sind eingebunden in ein vierspaltiges Seitenraster, durch das auf den Doppelseiten immer wieder neue Text-Bild-Konstellationen entstehen, in denen visueller Fakt und soziologische Deutung, konkrete Situation und theoretische Erschließung des Wirklichen eng verwoben sind.
Auf einen ersten Abschnitt, der die mehr als 100-jährige Geschichte des Essener Klinikkomplexes beschreibt, folgen vierzehn kurze Kapitel, die das Krankenhaus anhand von sieben Patientengeschichten und sechs Essays zu einzelnen Instrumenten und Apparaturen – dem Kernspintomografen, dem Bett, dem Zentrallabor, dem Skalpell, dem Fieberthermometer, der Spritze – erfassen, wiederum gefolgt von einer Doppelseite, auf der als Liste alle Berufe erfasst sind, die zum Betrieb des Alfried Krupp Krankenhaus notwendig sind. Den Abschuss bildet dann eine soziologische Reflexion von Wilhelm Vossenkuhl, die den Titel »Menschen im Krankenhaus« trägt.
Gegenüber den wechselnden Textsorten behaupten Timm Rauterts Fotografien im Seitenlauf ein hohes Maß an Kontinuität: Die Bilder, die in Schwarz-Weiß aufgenommen sind, sind meist aus einer halbtotalen bis geringen Distanz fotografiert, die Kamera richtet sich gleichermaßen auf die Menschen, die Situationen, die medizinischen Handgriffe und die Instrumente. Charakteristisch für die Form des Buches ist, dass vor allem die unterschiedlichen Textsorten eine oszillierende Bewegung – einen permanenten Wechsel der Perspektive – erzeugen: Auf eine biografische Skizze folgt ein Kurzessay zu einem einzelnen medizinischen Instrument, die situativen Schilderungen einer Reportage wechseln sich ab mit theoretischen Reflexionen, eine Erzählung aus der Perspektive von einzelnen Patient:innen tritt neben einen Text, der das Krankenhaus als Dienstleistungsunternehmen beschreibt, in dem ökonomische Erfordernisse nicht gegen medizinische und menschliche ausgespielt werden dürfen.
Während bei Im Krankenhaus vor allem der Text die Bruchlinien zwischen den verschiedenen Perspektiven erzeugt, sind es in Gilles Raynaldys Jean-Jaurès die einzelnen Fotografien selbst – oder genauer: ihre unterschiedlichen visuellen Sprechweisen –, die im Buch zu einer spannungsreichen Montage zusammengeführt werden[5].
Zwischen 2009 und 2011 fotografierte Gilles Raynaldy den Schulalltag des Gymnasiums Jean-Jaurès in Montreuil, einem Vorort von Paris. Der französische Fotograf wechselt in der Anordnung der Serie zwischen Schwarz-Weiß- und Farbaufnahmen, zwischen Porträts, Architekturfotografien, Stillleben und situativen Beobachtungen. Er zeigt Schulkinder und ihre Eltern, das Personal, die Arbeit der Lehrkräfte – ihre Autorität, ihre Routine, ihre Erschöpfung. Er findet Bilder für die Pubertät, die Freundschaft, die Rivalität, die Liebe, das Ausgeschlossensein und die Langeweile. Um eine Alltäglichkeit in die Folge der Bilder zu bringen, greift Gilles Raynaldy auf die zyklische Zeitstruktur des Schuljahres zurück. Das Buch setzt ein mit dem Schuljahresbeginn im Spätsommer und endet mit der Prüfungszeit vor den großen Ferien. Bilder, die den Schulhof zu verschiedenen Jahreszeiten zeigen, rhythmisieren die Bildfolge und schaffen für die Betrachtenden zugleich einen Anknüpfungspunkt für die Erfahrungen, die er selbst mit der Institution Schule verbindet.
Sophie Huguenot kontrastiert in TELEVISION. Ein fotografischer Essay über die Inszenierung von Nachrichten kurze und lange Zeiträume. Dem hektischen Gewimmel im Newsroom, das ihre Bilder festhalten, stellt sie ihre geduldige Bildproduktion mit der mechanischen Fachkamera gegenüber; die hohe Frequenz der täglich wechselnden Neuigkeiten konfrontiert sie mit einem Ereignis von langer Dauer, das sich der Logik der flüchtigen News verweigert: die Veränderung der Produktionssituation in einem Fernsehstudio über lange Zeit. »Während eines Zeitraums von neun Jahren hat Sophie Huguenot die Chronik des bewundernswerten Kampfs einer Redaktion erstellt, die ständig im Sturm stand: digitaler Tsunami, Existenzkampf um die Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Medien, Nachrichtenmüdigkeit sowie nicht zuletzt die schwindende Bedeutung der traditionellen Medien«, so beschreibt der ehemalige Chefredakteur der Nachrichtensendungen, Bernard Rappaz, das, was er in diesen Fotografien aus seinem eigenen Redaktionsalltag wiederfindet.
In enger Zusammenarbeit mit dem Buchgestalter Nicolas Eigenheer wurde für die Arbeit eine adäquate Form gefunden: Das Layout ist unaufgeregt, Sequenz folgt auf Sequenz, rhythmisiert durch Weißräume. Die Texte sind an das Ende des Buchs gestellt. Nach der visuellen Lektüre kann so ein zweiter Durchgang durch das Buch beginnen, der die Kontexte der Bilder noch einmal präziser erschließt und verschiedene Perspektiven auf die Bildfolge eröffnet.
Ähnlich wie Sophie Huguenot in Television bieten auch Im Krankenhaus und Jean-Jaurès den Betrachtenden die Position eines Beobachters zweiter Ordnung an. Beim Blättern zwischen den Bildern vollzieht man nach, wie jemand sich fotografierend eine Institution im wahrsten Sinne »erarbeitet« – das Neben- und Miteinander einer Vielzahl von Menschen, ihren gemeinsamen Alltag, ihre unterschiedlichen Positionen und Rollen, ihre Konflikte und Kompromisse. Eine Institution zu porträtieren, hat immer auch einen emanzipativen Aspekt, da Betrachtende verschiedene Innenansichten vermittelt bekommen, nicht allein den engen Realitätsausschnitt, den die Patientin, der Schüler oder die Fernsehzuschauerin kennenlernt. Die undurchdringliche Wirklichkeit der Institution wird im Buch transparenter.
[1] Sergej Tretjakov, »Die Biographie des Dings«, in: ders., Die Arbeit des Schriftstellers. Aufsätze, Reportagen, Porträts, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1972, S. 81–85.
[2] Bertolt Brecht, »Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment«, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. XXI, hrsg. von Werner Hecht u. a., Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag; Berlin und Weimar: Aufbau Verlag 1992, S. 448–514, hier S. 469.
[3] Im Krankenhaus. Der Patient zwischen Technik und Zuwendung. Bilder aus dem Alfried Krupp Krankenhaus, Fotos von Timm Rautert, Texte von Regine Hauch und Wilhelm Vossenkuhl, Design von Otl Aicher und Hans Neudecker, Berlin: Ernst & Sohn 1993, S. 25.
[4] Das Berliner Philharmonische Orchester, Fotos von Timm Rautert, Texte von Paul Badde, Ulrich Borsdorf, Peter Cossé, M. O. C. Döpfner, Winfried Fest, Joachim Kaiser, Sabina Lietzmann, Jutta March, Yehudi Menuhin, Albrecht Roeseler, Manfred Sack, Karl Schumann, Wolfgang Stresemann, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1987.
[5] Gilles Raynaldy, Jean-Jaurès, Paris: Purpose éditions, 2015.